Kinder brauchen Geschichten
„Die Feldmäuse sind fleißig damit beschäftigt, Vorräte für die langen Wintermonate zu sammeln. Nur einer beteiligt sich nicht daran: Frederik. Er liegt in der Sonne, schaut sich die Wolken an, schnuppert an den Blumen und saugt ihren Duft ein, staunt über die bunten Herbstfarben. Als die anderen Feldmäuse ihn ansprechen, warum er denn keine Vorräte für den Winter sammelt, antwortet Frederik: „Aber das tue ich doch, ich sammle Farben für den Winter“.
Wie wertvoll diese besonderen Vorräte sind, entdecken die anderen Mäuse, als während der langen dunklen Wintermonate Frederik beginnt, Geschichten zu erzählen, und mit ihnen bunte Herbstfarben, warme Sonnenstrahlen und Blütenduft in die dunkle Winterhöhle zaubert.“
Bilder im Kopf
Eine wunderbare Geschichte, die uns daran erinnert, wie wichtig und wertvoll Geschichten sind. Dies gilt besonders für Kinder. Kinder brauchen Geschichten voller Fantasie und Lebensfreude. Geschichten wie die von der Maus Frederik sind wie kostbare Perlen in unserem Leben.
Es macht einen großen Unterschied, ob ich eine Geschichte wie die von Frederik erzählt oder vorgelesen bekomme, oder ob ich zum Beispiel einen Zeichentrickfilm sehe. Es ist zwar dieselbe Geschichte, aber sie fordert mich ganz unterschiedlich. Wenn ich lese oder vorgelesen bekomme, dann male ich mir in meinem Kopf aus, wie alles ausgesehen hat. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Mäuse Vorräte sammeln, sehe Frederik an bunten Blumen schnuppern. Hier ist die Fantasie gefragt, und jeder Leser wird die Geschichte anders in seinem Kopf „bebildern“. Wenn ich aber den Film anschaue, brauche ich keine Fantasie, ich sehe ja schon alles vor mir. Alle Zuschauer haben dieselben Bilder vor Augen — die Vielfalt geht verloren.
Konzentration fördern
Neben der Fantasie wird beim Lesen übrigens noch eine zweite sehr wichtige Fähigkeit trainiert. Wenn die Szene mit den Vorräte sammelnden Mäusen und dem Blumenduft schnuppernden Frederik beschrieben wird, dann braucht das vielleicht eine halbe Buchseite. Es ist, als wenn ich ein Bild male, immer neue Bildelemente hinzufüge, bevor endlich das ganze Bild zu sehen ist. Wenn ich eine Geschichte höre, geschieht genau dasselbe. Ich füge Bild um Bild meiner inneren Vorstellung hinzu, bevor endlich das Gesamtbild erscheint. Das fordert und fördert Konzentration. Beim Film ist das Gesamtbild sofort da, ich brauche mich nicht zu konzentrieren, mir nichts merken. Ich sehe ja alles vor mir.
Gehörte Geschichten sind dadurch viel farbiger und langfristiger in unserer Erinnerung verankert; ein Umstand, den wir auch gerade für biblische Geschichten nutzen sollten. Die Evangelien enthalten mündlich überlieferte Geschichten, die erst viel später aufgeschrieben wurden. Wenn wir sie zum Beispiel aus einer Kinderbibel vorlesen oder sogar mit eigenen Worten nacherzählen, dann prägen sie sich unseren Kindern umso lebendiger ein und werden zu einem wertvollen Geschichten-Perlen-Schatz, der unsere Kinder ihr Leben lang begleiten wird.
Uwe Lal ist Pädagoge und Kindermusiker.