Vorzeitig einschulen?

In Deutschland und Österreich ist es als Eltern möglich, sein Kind einschulen zu lassen, auch wenn es nach der Stichtagsregelung noch nicht eingeschult werden muss. In Deutschland spricht man hier von „Kann-Kindern“. Doch wie finden Eltern heraus, ob das Kind schulreif ist?

Zunächst eine kleine fachliche Anmerkung: Füher sprach man von „Schulreife“, heute werden die Begriffe „Schulfähigkeit“ beziehungsweise „Schulbereitschaft“ benutzt, weil einerseits der Teilbegriff „Reife“ die Vorstellung provoziert, mit zunehmendem Alter „reife“ jedes Kind körperlich und kognitiv heran. Andererseits wird Schulfähigkeit oder Schulbereitschaft seit Jahren sehr viel umfassender betrachtet.

Kann man denn sein Kind zu früh einschulen oder aber zu lange warten?
Eine vorhandene Schulfähigkeit oder Schulbereitschaft ergibt sich immer aus vier Kompetenzfeldern: einer emotionalen, motorischen, sozialen und kognitiven Schulfähigkeit. Zu ihr gehören vor allem seelische Stabilitäten, Belastbarkeit, eine größere Portion Selbstsicherheit, ein grundsätzlich vorhandenes Regelbewusstsein, Lerninteresse und Neugierde, ein Bündel an sozialen Verhaltensweisen sowie Entspannungsfähigkeiten, Ausdauer, Zuversicht und ein gewisses Maß an Konzentrationsfertigkeit. Da jedes Kind ein „Unikat“ ist, das sich von anderen Kindern – auch unabhängig vom Alter – individuell unterscheidet, ist die Stichtagregelung in Deutschland nur bedingt hilfreich. Zusammenfassend kann festgehalten werden:
> Nicht das Stichtagsalter ist entscheidend, sondern das Vorhandensein bestimmter Fertigkeiten!
> Britische, US-amerikanische und deutsche Studien weisen deutlich darauf hin, dass die Schulfähigkeit bei 6-jährigen Kindern deutlich stärker vorhanden ist als bei 5-jährigen Kindern.
> Vorzeitig eingeschulte Kinder wiederholen häufiger eine Klasse.
> Bei zu früh eingeschulten Kindern ziehen sich nicht selten Fertigkeitsmängel durch die folgenden Schuljahre.
> Wenn die Kita eine spannende, kommunikationsreiche und selbstständigkeitsfördernde, situationsorientierte Pädagogik mit handlungsaktiven Projekten anbietet, kann eine spätere Einschulung keine entwicklungshinderlichen Folgen hervorbringen.

Sollte ich mein Kann-Kind, wenn es noch ein Jahr länger in den Kindergarten geht, zusätzlich intellektuell fördern, zum Beispiel mit Musik- oder Sprachunterricht?
Es geht bei einem Aufbau der Schulfähigkeit – im Gegensatz zur landläufigen Meinung vieler Erwachsener – nicht primär um eine intellektuelle Förderung. Das ist eine immer wiederkehrende Fehlannahme und würde am vorhandenen Problem vorbeiführen. Vielmehr muss es darum gehen, mit Kindern Rollen-, Musik-, Theater-, Fantasie-, Bewegungsspiele zu erleben, alltagsorientierte Gespräche zu führen, Umfelderkundungen zu unternehmen sowie die Selbstständigkeit der Kinder auszubauen, das Selbstwertgefühl von Kindern zu stärken und ihre Neugierde auf Neues anzusprechen! Die Schulbereitschaft setzt sich in erster Linie aus den Fertigkeiten Lernmotivation, Lernbereitschaft und Lernfreude zusammen. Es geht also um Persönlichkeitsmerkmale und nicht um Lernergebnisse.

Wie sollen wir damit umgehen, wenn unser Kind das erste Schuljahr wiederholen muss?
Verschiedene Untersuchungen haben immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass die Grundlagen der vier basalen Kulturtechniken (Sprache/ Lesen/ Schreiben/ Rechnen) von Anfang an ein sicheres Fundament besitzen müssen. Insofern ist bei starken Fertigkeitsdefiziten eine Klassenwiederholung angezeigt, damit sich fehlende Basiskompetenzen mit jedem Schuljahr nicht weiter potenzieren. Doch es sollte am besten gar nicht erst durch eine zu frühe Einschulung zu einer Wiederholungsnotwendigkeit kommen!
Die Fragen von Ruth Korte beantwortete Prof. h.c. Dr. h.c. Armin Krenz, Wissenschaftsdozent für Elementarpädagogik und Entwicklungspsychologie und Autor des Buches „Ist mein Kind schulfähig? Ein Orientierungsbuch“ (Kösel).

Das Interview ist zuerst in der Zeitschrift Family erschienen.